Vielen Dank für die freundliche Einladung nach Erlangen. Vielen Dank auch fürs Dasein bei diesem
unchristlichen Wetter und ich hoffe, dass ich Ihnen das näher bringen kann, was das Nachdenken
über parallel und alternativ Gesellschaften in Lateinamerika angeht, was für mich sozusagen
auch neu war, als die Erlanger auf mich zukamen, irgendwie mit dieser Einladung darüber nachzudenken.
Ich glaube, alles, was jetzt heute kommt, ist noch nicht ganz abgehangen und alter Stoff,
sondern eher etwas, was eigentlich erst kürzlich entwickelt wurde. Aber ja, ich hoffe,
ein paar Punkte werden da deutlich. Ich möchte gerne anfangen mit einer Einführung zur allgemeinen
Überlegung, inwiefern man den Begriff parallel und alternativ Gesellschaften in Lateinamerika
eigentlich sinnvoll anbringen kann oder nicht und im weiteren Verlauf dann erst mal auch noch
einiges vorschalten zur allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung auf diesem Subkontinent im 20. Jahrhundert.
Ja, ich fange einfach mal an. Am Anfang der Überlegung zu diesem Vortrag stand die Frage,
inwiefern das soziologische Phänomen einer parallel- oder alternativ Gesellschaft für den
Fall der lateinamerikanischen Gesellschaften überhaupt zu erfassen sei. Denn so stellt es sich
schnell heraus, weder im politischen Diskurs noch in der soziologischen Terminologie existiert in
Lateinamerika eine auch nur ansatzweise konsolidierte und konzeptualisierte Form dieses
in gegenwärtigen europäischen Debatten so geläufigen Konstrukts. Stattdessen dominieren
vor allem in soziologischer Forschungsliteratur zu Phänomenen gesellschaftlicher Polarisierung
Begriffe wie Segregation oder Marginalisierung. Diesen ist im Unterschied zu dem stark
kulturalistisch aufgeladenen europäischen Diskurskonstrukt der Parallelgesellschaft eine
sehr viel stärker auf sozioökonomische Faktoren bedachte Fokussierung zu eignen, was insofern kaum
überraschend dürfte, als der lateinamerikanische Subkontinent auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts
noch immer die Weltregion mit dem höchsten Grad an Ungleichheit ist, was die innergesellschaftliche
Verteilung von ökonomischem Reichtum anbelangt. Auch wenn bei diesem Phänomen in den jeweiligen
Gesellschaften zweifellos ethnische und kulturelle Faktoren in unterschiedlichen Ausprägungen eine
Rolle spielen scheint die Tatsache des prinzipiell hohen Heterogenitätsgrades der lateinamerikanischen
Gesellschaften eine Übertragung der europäischen Vorstellung von einer eingesessenen Mehrheitsgesellschaft
und einer sich von ihr durch kulturelle, religiöse oder sprachliche Abweichung konstituierenden
Parallelwelt erheblich zu erschweren. Die erste Hypothese für die folgenden Überlegungen ließe
sich daher zunächst wie folgt zusammenfassen. Statt den in den europäischen Debatten dominierenden
kulturellen Parametern Sprache, Religion, Kultur einer stets unter Abgrenzungsverdacht
stehenden Parallelgesellschaft verlaufen gesellschaftliche Polarisierung in Lateinamerika
sehr viel stärker auf der Ebene sozioökonomischer Ungleichheit. Wenn also der Begriff der
Parallelgesellschaft für Lateinamerika als solcher offensichtlich kaum übertragungsfähig scheint,
so entfaltet das Konzept einer Alternativgesellschaft im Sinne utopisch aufgeladener
Vorstellungen einer anderen beziehungsweise neuen Welt eine ungleich größere Produktivität oder
um es mit Boccesno und Santos zu formulieren. What is the history of Latin America but the chronicle
of the utopian impulse? So war Amerika als die neue Welt wie etwa Todorow in seiner Conquete de
l'Amérique gezeigt hat, vom Beginn der europäischen Expansionsbewegung an eingebettet in ein ganzes
Netz utopischer Vorstellungen und Zuschreibung, welche allerdings und schon die Lektüre von
Columbus Board Tagebuch gibt uns darüber Auskunft, gleichfalls immer schon primär von ökonomischen
Motiven unterwandert war. Die ursprüngliche Motivation von Columbus denkt über die Entdeckung
beziehungsweise Ausbeutung Lateinamerikas Ressourcen zu generieren für einen neuen Kreuzzug nach
Jerusalem. Diese Geschichte der Utopien als konstante politische Reflexion und Aktion in
Lateinamerika lässt sich weiter verfolgen über die Weltentwürfe der indigenen Chronisten,
die Unabhängigkeit und Einigungsprojekte des 19. Jahrhunderts bis hin zu dem, was einen wichtigen
Ausgangspunkt des heutigen Vortrags bilden und aus dem allgemeinen historischen Nahhorizont der
Geschichte zumindest ansatzweise noch vertraut ist. Die Rede ist von dem im Umfeld der kubanischen
Revolution von 1959 sich überall auf dem Kontinent etablierenden linken Bewegungen und Theorien,
welche ihrerseits in vielfältigen Ausprägungen von einer anderen Gesellschaft beziehungsweise
dem Ombre nuevo träumten. Die Betrachtung dieser politischen Entwicklung zwischen 1950 und 1975,
Presenters
Dr. Benjamin Loy
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
01:19:09 Min
Aufnahmedatum
2016-11-29
Hochgeladen am
2016-12-03 17:26:21
Sprache
de-DE